Liebe Grüsse auf DIN A6
Zum Muttertag kann man per Kurier Blumen oder über WhatsApp ein paar Zeilen schicken. Viel schöner aber sind wirklich persönliche Glückwünsche – zum Beispiel mit einer selbst geschriebenen Karte. Über ein kleines Format, das (wieder) zu grosser Form aufläuft.
Gerade mal 148 x 105 mm – das sind die Standardmasse einer Postkarte. Dennoch kann sie jede Menge Emotionen transportieren: Das Motiv auf der Rückseite; die individuell geschriebenen Zeilen auf der Vorderseite; die Tatsache, dass sie gekauft, beschriftet, frankiert und in einen Briefkasten geworfen wurde – all das macht dieses kleine Stück Karton zu einer Ausnahmeerscheinung im heutigen Kommunikationsrauschen. Wer eine persönlich verfasste Postkarte im Briefkasten findet, fühlt sich beschenkt: Jemand hat an mich gedacht, hat sich Mühe für mich gemacht… Dieses subjektive Empfinden wird auch akademisch bestätigt: Das Versenden einer Postkarte drücke eine besondere Wertschätzung des Adressaten aus, erklärt Sprachwissenschaftler Professor Hajo Diekmannshenke von der Universität Koblenz, der dieses Phänomen schwerpunktmässig erforscht. Und das Schöne ist: Diese Wertschätzung bleibt, sie ist sicht- und fühlbar. Eine WhatsApp-Message wird sich die Mama wohl kaum an die Kühlschranktür heften, eine Karte mit lieben Grüssen dagegen sehr gern.
Auch deshalb gilt die Glückwunschkarte, neben Blumen und Pralinen, als eine der wichtigsten Aufmerksamkeiten zum Muttertag. Rund um den zweiten Sonntag im Mai, an dem in Brasilien, den USA und vielen europäischen Ländern traditionell die Mütter und die Mutterschaft geehrt werden, verzeichnen die Hersteller von Grusskarten ansteigende Umsatzzahlen. In der Urlaubssaison klettert die Kurve dann weiter nach oben – und zwar immer steiler: So melden beispielsweise die deutschen Produzenten Zuwächse von jährlich fünf Prozent und die Deutsche Post Beförderungszahlen von mehr als 210 Millionen Stück pro Jahr – eine analoge Erfolgsgeschichte im Zeitalter von Facebook, Snapchat & Co.
Kurznachrichten per Briefträger
Als die „Correspondenzkarte“ am 1. Oktober 1869 in Wien von der österreichisch-ungarischen „Generaldirektion für Post- und Telegraphenangelegenheiten“ offiziell eingeführt wurde, ging es nicht um Ferien- oder Herzensgrüsse, sondern schlicht um Informationsübermittlung: Die Postkarte war eine knappe und kostengünstige Alternative zum Brief, geeignet auch für alle, die sich nicht zutrauten, jene langen, kunstvollen Sätze zu drechseln, die damals die schriftliche Kommunikation prägten. Weil die Post vielerorts mehrmals täglich ausgetragen wurde, landeten die Nachrichten tatsächlich sehr schnell beim Empfänger – die Postkarte war also gewissermaßen die SMS vergangener Jahrhunderte.
Mit der Gründung des Weltpostvereins 1874 wurde erst ein länderübergreifender, später ein weltweiter Versand möglich. Skandinavische Länder und Grossbritannien setzten auf die Karte, gefolgt von Russland, Ceylon, den USA, Japan, Spanien und Italien. 1888 gab es weltweit in mehr als 35 Ländern Postkarten. Neben den reinen Text-Nachrichten entdeckte man schnell auch den Reiz optischer Informationen – dank neuer Fototechnik und Druckverfahren kamen immer kreativere Bild- und Ansichtskarten auf den Markt. Kein Wunder, dass Postkarten bis in die 1920er Jahre hinein beliebte Sammelobjekte waren, die man in eigens dafür produzierten Alben oder Sammelkisten aufbewahrte.
Heutige Fans zelebrieren ihre Postkarten-Liebe öffentlicher: Die Mitglieder von „Postcrossing“ stellen ihre schönsten und aussergewöhnlichsten Objekte auf der Online-Galerie der internationalen Postkarten-Community aus. Rund 690.000 Menschen aus 212 Ländern beteiligen sich an dem Projekt, bei dem man per Zufallsprinzip Karten verschickt und/oder erhält; mehr als 43 Millionen Exemplare haben sie inzwischen auf den Weg gebracht. Die meisten Mitglieder stellt übrigens Russland; die fleissigsten Verschicker jedoch sind die Deutschen.
Tipps von der Postkartenschreiberin
Nicht auf Masse, sondern auf Klasse setzt Sabine Rieker. Die 31-jährige Stuttgarterin hat ihr Hobby zum Job gemacht und ist hauptberufliche „Postkartenschreiberin“: Mit schöner, verschnörkelter Handschrift und viel poetischer Fantasie füllt sie Karten, die dann bei den Wunsch-Adressaten ihrer Auftraggeber im Briefkasten landen. Ob sich eine Segelschule bei Kursteilnehmern bedanken, eine Tochter ihre Mutter aus der Ferne grüssen oder ein Galerist originelles Performance-Material haben will: Sabine Rieker findet die richtigen Worte, den passenden Look. Dafür braucht sie eine Karte und einen Kugelschreiber, mehr nicht. „Ich beginne immer mit dem Adressfeld. Das gestalte ich bewusst, mit verschiedenen Schrifttypen, fülle viel Raum aus. Währenddessen habe ich schon so viel Kontakt mit dem Papier, bin so intensiv in der Bewegung, dass ich einen Bezug zu der betreffenden Person herstellen kann. Die Anrede in einer schönen Schreibschrift tut ihr Übriges – in dieser Zeit entstehen die Ideen, was und wie ich es formulieren will.“
Was rät sie weniger kreativen Kartenschreibern, die zwar wissen, dass sie der Mama Floskeln ersparen möchten – aber nicht, wie? „Zweifeln Sie vor allem nicht an Ihrer Kreativität. Die beweist man ja schon mal damit, dass man sich überhaupt fürs Schreiben entscheidet.“ Wer die Gedanken in Richtung Empfängerin schweifen lässt, kommt sicher auf Inspirationen – angefangen von der ganz grossen Frage, was die Mutter für einen persönlich bedeutet, bis zu ganz praktischen Dingen: welche Lieblingsfarbe hat sie, welche Schrift passt zu ihr? Auch das Motiv der Karte kann hilfreich sein, möglicherweise lassen sich Fotos oder Illustrationen inhaltlich aufgreifen. Steht vorne ein Motto oder ein Spruch? Den kann man auf der Rückseite individuell fortsetzen. Um kleine, kunstvolle Motivationshilfen à la Rieker zu schaffen wie: „Für mich bist du ein Alltagsheld“ oder „Danke fürs Sein, ganz allgemein“ – die sich natürlich nicht nur am Muttertag, sondern ganzjährig ganz wunderbar auf einer Karte machen.
Autorin (Nennung optional): Julia Bender